Satisfaction

Der geheime Blick ins Fenster

"Sag mal, bist du nicht Maresi?"

Überrascht schaute Marie-Thérèse an dem Mann im anthrazitfarbenen Mantel hoch. Wer war das?

Sie stutzte. Seit Kindheitstagen hatte sie niemand mehr so genannt. Irgendwie kam ihr der Typ bekannt vor.

"Kennst du mich nicht mehr? Ich bin Mike!"

Mike? Na, klar!

Mike war der große Bruder ihrer damals besten Freundin Eva und wurde von allen Mädchen in der Nachbarschaft umschwärmt. Er hatte lange, blonde Haare, sah ein bisschen aus wie Brian Jones, konnte Gitarre spielen und besaß einen eigenen Plattenspieler. Nun trug er eine Stirnglatze, einen leichten Bauchansatz und eine schwere Aktentasche.

"Hast du Zeit für einen Kaffee?"

Marie-Thérèse nickte.

Die Konversation in dem Jugendstilcafé am Naschmarkt begann schleppend. Mike trumpfte mit zwanzig Ehejahren, den - ach, so begabten - Kindern, dem neuesten Audi und einer Spitzenposition beim Finanzimisterium auf. Marie-Thérèse versuchte mit ihrem 60-Stunden-Job als Marketingleiterin eines Kosmetikkonzerns, einem Liebhaber und dem preisgekrönten Perserkater Falstaff zu punkten.

Nach dem zweiten Glas Rotwein tauten sie allmählich auf, und die Geschichten, die auf einmal aus ihnen heraus purzelten, begannen alle mit dem gleichen Satz: "Weißt du noch?" Plötzlich sah sich Marie-Thérèse im kurzen, rosa Kleid auf der Bierkiste in Nachbars Garten stehen und durch die quer gestellten Lamellen der Jalousie in Mike's Zimmer spähen. Die laute Musik, die nach außen drang, hatte sie damals angelockt. "I can't get no satisfaction, but I try, but I try..." Mike liebte dieses Lied und spielte es den ganzen Tag, hinauf und hinunter. herauf und herunter.

Jetzt saß er mit heruntergelassener Hose auf der Couch und hatte sein Ding in der Hand. Sie hatte so etwas noch niemals von (aus) der Nähe gesehen. Was machte er da? War das etwa das, was der Pfarrer Unkeuschheit nannte? War das nicht Sünde? Eine schwere Sünde sogar? Sie konnte trotzdem nicht die Augen von Mike's Hand lassen, die rasend schnell auf- und abglitt. Plötzlich spritzte es aus dem Ding heraus, wie aus einem Gartenschlauch. Ob das bei allen Jungs so war? Und warum wand sich Mike unter lautem Stöhnen?

Das Geschrei der Mutter, ihr schrilles "Was machst du da, Maresi? Wirst du wohl sofort...!" hatte damals den praktischen Aufklärungsunterricht, der so interessant begonnen hatte, jäh beendet. Ein paar Jahre später war sie dann doch noch dem Ganzen hinter die Schliche gekommen. Während Marie-Thérèse ihre Gedanken schweifen ließ und ein kleines Schmunzeln nicht unterdrücken könnte, redete Mike ohne Unterlass weiter.

"Hörst du mir eigentlich zu?" fragte er.

"Aber ja, natürlich!"

"Und woran hast du jetzt gerade gedacht?"

"Oooooch, an nichts. An gar nichts."

"Komm, Maresi, spuck's aus!"

Marie-Thérèse fühlte sich ertappt. Verlegen zeichnete mit dem Löffel konzentrische Kreise auf den Boden der Kaffeetasse.

"Du Mi-hike?"

"Jaaa?"

"Hörst du eigentlich noch manchmal 'Satisfaction'?"

Polly - November 2004