Der Zuhörer

Volker M. war ein attraktiver Mann, und er wusste das. Er wusste, wie seine knapp zwei Meter große, sportliche Gestalt, die braunen, warmherzig wirkenden Augen und seine immer noch vollen grauen hellbraunen Locken auf Frauen wirkten. Natürlich wusste er das. Niemand hätte, wenn er ihn nun sah, vermutet, dass er einmal ein unsicherer und schüchterner Student der Psychologie gewesen war, einer den die Frauen nur als Freund und guten Zuhörer zu schätzen wussten, aber den sie als Mann nicht wirklich ernst nahmen. Irgendwann hatte sich das zu ändern begonnen. Er war selbstsicherer geworden, als sich seine berufliche Situation verbesserte. Außerdem war er war einer der Männer, die mit zunehmendem Alter an Attraktivität gewinnen. Die Veränderungen waren schleichend erfolgt. Erstaunt hatte er wahrgenommen, wie sich die Frauen ihm anders zu nähern begannen. Sie wollten ihn kennen lernen. Sie nahmen ihn ernst. Sie wollten ihn nicht nur als Zuhörer. Sie wollten wirklich mit ihm zusammen sein. Er brauchte nicht viel zu tun, sie kamen von alleine auf ihn zu. Und sie weinten, wenn er sie früher oder später wieder verließ.

Volker war kein Mann für langwierige Beziehungskisten. Eine kurze gescheiterte Ehe - eine Jugendsünde, wie er rückblickend befand- reichte voll und ganz. Nun, mit Mitte Fünfzig war er scheinbar auf dem Höhepunkt seiner Attraktivität angekommen. Eine Charaktereigenschaft kam ihm dabei nach wie vor zugute: Er war ein guter Zuhörer. Er gab Menschen das Gefühl, das ihre Geschichten das im Moment wichtigste für ihn seien. Wenn sie ihm von ihrem Leben, ihren Nöten und Bedürfnissen erzählten, hatten sie das Gefühl, dass er ihnen half, neue Perspektiven zu entwickeln. Sie glaubten, dass er mit ihnen Lösungen fand. Ihn Wirklichkeit tat er eigentlich nichts weiter, als zuzuhören und gelegentlich ein Satzende seines Gegenübers wiederaufzunehmen, um es als Frage zurückzugeben. Die wenigsten Menschen sind gute Zuhörer, und es wird allgemein unterschätzt, wie schwer es sein kann, den ganzen Tag immer nur zuhören zu müssen. Als Psychotherapeut war es Volkers Job, sich den ganzen Tag die Geschichten anderer Menschen anzuhören. Je länger er ihn diesem Beruf arbeitete, desto mehr gelangte er zu der Einsicht, dass sich die Geschichten letztlich alle glichen: Das Kontingent an zwischenmenschlichen Motiven war überschaubar. Die immergleichen Motive tauchten in wechselnder Verkleidung vor Volker auf. Sein Beruf langweilte ihn.

Die Jahre hatten ihn zum Zyniker gemacht, aber er ließ es sich nicht anmerken. Er hörte weiter zu und bekam gutes Geld dafür.

Seine neue Patientin war erst wenige Male bei ihm gewesen. Depressive Angststörung, vermutlich in Kombination mit einer Essstörung. Essstörungen behandelten im Allgemeinen nicht, er hatte da einen Kollegen, zu dem er überwies, und schwere Fälle gehörten sowieso in eine stationäre Behandlung. Diese Frau jedoch wollte sich partout von ihm behandeln lassen. Er hatte das Für und Wider einer Behandlung durch ihn mit ihr besprochen, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Sie war jung, Mitte bis Ende zwanzig, und dass sie so ungeheuer dünn war, fand Volker erregend. Volker war jedoch professionell genug, um mit diesem Gefühl umgehen zu können: Noch nie hatte er etwas mit einer Patientin angefangen. Ein solches Verhalten hätte ihn die berufliche Stellung kosten können. Er verstand nicht, wie manche seiner Kollegen so dumm sein konnten, für eine Affäre mit einer Patientin alles aufs Spiel zu setzen. Es gab so viele Gelegenheiten, Frauen kennen zu lernen, wozu da in der eigenen Praxis wildern, noch dazu unter mittelalten Frauen, die unglücklich genug waren, einen Psychotherapeuten aufzusuchen?

Diese neue Patientin war nicht nur sehr dünn, sondern auch noch sehr apart. Sie hatte lange schwarze Haare bis zu den Hüften und dunkle Augen, in denen er hätte versinken können. Jetzt sprach sie gerade über ihre aktuelle Beziehung zu einem Kollegen.

Dieser Mann kam nicht sehr gut weg in ihren Schilderungen. Warum war sie dennoch mit ihm zusammen? Volker machte sich eine Notiz.

Aber da war sie auch schon mitten in der Schilderung einer erotischen Begebenheit mit diesem Mann, und Volker stockte der Atem. Was wurde hier gespielt? Wie konnte es sein, dass sie da etwas schilderte, das seine Phantasie in den letzten Wochen wie kaum etwas anderes beflügelt hatte? Aber, nun ja, die menschlichen Motive waren beschränkt, wer hätte das besser gewusst als er.

Ihr Partner hatte ihr also angeblich einen Gangbang organistisiert. 25 Männer zu ihrem 25. Geburtstag. Sie hatten einen Aushang in dem Swingerclub, den sie regelmäßig besuchten, gemacht und dazu eingeladen. Gingen so junge Frauen überhaupt schon in einen Swingerclub? 25 Männer hatten diesen dünnen Körper in ihren Händen gehabt. Sex von vorne, von hinten, von der Seite. Manche hatten ihr dazu die Augen verbunden. Manche waren mehrmals angetreten. Volker verlor sich in einer Phantasie darüber, wie grobe Männerhände diesen kleinen feinen Busen schändeten. Sie schilderte das alles so ungeheuer plastisch. Aber wozu das Ganze? Sein geschultes Therapeutenohr vermisste das Problem.

Wie waren sie überhaupt auf dieses Thema gekommen?! Volkers Gedanken, hatten Mühe, durch den Nebel in seinem Gehirn zu dringen. Er hatte sich zu wenige Notizen gemacht, stellte er nun fest. Was erzählte sie da gerade? Jemand hatte es ihr von hinten besorgt, während sie einen anderen oral befriedigte? Und sie hatte es genossen?! Diese Frau war die fleischgewordene Männerphantasie! Volker kam jetzt in arge Bedrängnis. Er versuchte, an etwas Unangenehmes zu denken, um seiner Erektion Herr zu werden.

Die Frau knöpfte sich gerade die Bluse auf. Und redete dabei weiter! Einer ihrer 25 Männer war ein großgebauter Schwarzer gewesen? Was hatte der gemacht?!

Volker wusste nicht mehr, wie ihm geschah. Die Frau war plötzlich unter ihm. Sie kniete vor seinem schönen teuren Therapeutensessel aus Leder und knöpfte ihm gekonnt die Hose auf. Sie entblößte sein zu enormer Größe angeschwollenes Glied. Woher hatte sie auf einmal das Kondom?! Aber Volker dachte nicht mehr, er gab sich nur noch hin. Sie war ungeheuer versiert. Der Höhepunkt, den er wenig später erlebte, war einer der besten seit langem.

Die Frau verschwand dann so schnell aus seiner Praxis, dass er später glaubte, er habe sich das alles nur eingebildet. Konnte es sein, dass er vielleicht eingeschlafen war und das alles nur geträumt hatte? Aber dann hätte er sich ja selbst die Hose aufknöpfen und ein Kondom überziehen müssen. Nein, das konnte nicht sein. Er beschloss, das Ganze auf sich beruhen zu lassen. Außerdem sollte seine Sprechstundenhilfe morgen bei der Patientin anrufen und ihr mitteilen, dass Herr Maier ihre Behandlung nun doch nicht weiterführen könne, er sie aber gerne an einen Kollegen überweisen würde.

Das fahle Licht des Computermonitors war die einzige Lichtquelle im Raum. Volker hatte das Bedürfnis, diesen seltsamen Tag gemächlich ausklingen zu lassen. Da entdeckte er die Email seiner Online-Affäre, mit der er in den letzten Wochen unzählige zunehmend erotischere Emails gewechselt hatte. Mit ihr hatte er das Gangbang-Szenario immer weiter verfeinert.

"Happy birthday", schrieb RedLady. "Ich hoffe, Du hattest einen schönen Tag..."

Creepynight - Dezember 2004