Erotic Story: Die ungeheuere Schwere der Realität

Nach der Winterpause geht es nun weiter mit den erotischen Geschichten aus dem „Erotisch Schreiben“. Ich freue mich, eine weitere Story von Peer B., nicht zum ersten Mal unter den schreiblustigen Teilnehmern, veröffentlichen zu dürfen – herzlichen Dank!

Sie sah hübsch aus. Gutsituiert, wie es so schön hiess. Man konnte es an ihrer Kleidung erkennen. Und Geschmack hatte sie auch, das Blau des Kostüms war mit dem T-Shirt abgestimmt. Die Kombination alleine war schon exquisit. Vermutlich beruflich unterwegs. Doris Lessing las sie, reagierte also prompt auf den Literatur-Nobelpreis. Na ja, die Bahnhofsbuchhandlungen quollen derzeit über mit ihren Titeln. Von ihrem Alter her, könnte sie das „Goldene Notizbuch“ schon gelesen haben, als es noch das Kultbuch der Frauenbewegung war. Es verband damals das politisch linke Gedankengut mit der Suche nach der Neupositionierung der Frau in der Gesellschaft. Er hatte es bis zur Hälfte gelesen, aber dann war ihm der Wälzer doch zu dick gewesen.

Sie trug einen Goldring mit blauem Stein, vermutlich Saphir, keinen Ehering. Würde auch irgendwie nicht zu ihr passen. Aber vermutlich hatte sie dennoch eine Ehe oder längere Beziehung hinter sich. Ob sie erwachsene Kinder hatte? Schwer zu sagen. Wie alt mochte sie sein? Anfang fünfzig? Sie schminkte sich dezent, aber ein bisschen Retusche war auch dabei. Nicht viel. Sie hatte eine glatte Haut mit weichen Falten. Keinen verhärmten Gesichtsausdruck. Entweder hatte sie mit dem Leben, so wie es ihr begegnete, Frieden geschlossen oder sie hatte von Hause aus eine glückliche Natur. Kleine Lachfältchen an den Augen.

Sie hatte offensichtlich bemerkt, dass er sie heimlich betrachtete. Da half auch nicht, dass er gleich wieder in die Zeitung blickte, so als wäre nichts, oder zum Fenster hinaus, um vorzugeben, er träume in die Landschaft.

Sie hatte einen schnellen Blick. Als sich ihre Augen zum erstenmal für Sekundenbruchteile trafen, war es ein blitzartiges Mustern gewesen. Beim zweitenmal dann eher eine analytische Frage. Was will er von mir? Ist das einer, der mich jetzt gleich vollquatschen wird? Mir meine Ruhe nehmen will? Ein Langweiler, der mir selbstüberzeugt und breit erzählt, was für ein toller Hecht er ist? Täuschte er sich oder war ihre Abwehr schon mal präventiv in Stellung gegangen.

Wobei sie nur nicht glauben sollte, dass er kein Risiko einging. Sicher, er war durch den Zug gegangen und hatte sich als sein Gegenüber bewusst sie ausgewählt. Er machte das öfter so, ging einfach den Wagon entlang, schaute in die Abteile und wartete darauf, irgendein inneres Signal zu spüren. Aber Täuschungen waren dabei keineswegs ausgeschlossen. Eisenbahnen waren ein gefährliches Pflaster. Die vermeintlich in sich selbst ruhende Dame, bei der dann plötzlich alle Dämme der Zurückhaltung brachen, war ihm keineswegs unbekannt. Und nirgendwo stand geschrieben, dass immer der Mann der initiative Teil sein musste.

Aber keine Angst. Bei ihm konnte sie sicher sein. Er würde höchst vorsichtig vereinzelt Klänge anschlagen und warten, ob von ihr ein Echo käme. Und sie konnte sich darauf verlassen, wenn er merkte, dass sie nicht interessiert war, würde er sofort damit aufhören. Eroberungen wider Willen waren nicht mehr sein Ding. Entweder wollten beide das gleiche oder man liess es einfach. Erotik und Anziehungskraft konnte man nicht herbeizwingen. Sie waren da oder eben nicht. Und soetwas entwickelte sich ganz rasch. Irgendwo hatte er mal gehört, es seien die ersten 20 Sekunden einer Begegnung, in der sich alles entscheide.

Die waren inzwischen definitiv rum. Und? Er fand sie höchst attraktiv. In allem. Ihr Äusseres, ihre Körpersprache, die gesamte Ausstrahlung. Und sie verstand es, ihrer Anziehungskraft auch noch nachzuhelfen. Mit der Perlenkette zum Beispiel. Oder mit ihrem Parfüm. Wenn sie wüsste, welche Wirkung das bei ihm hinterliess. Es betörte ihn schon, seit er ihr gegenüber sass. Und wenn sich ihre Augen das nächstemal begegneten, würde er ihr blitzschnell signalisieren, dass er sie wunderschön fand.

Er hatte schon wieder zu ihr herüber geschaut, gab aber vor, die Zeitung zu lesen. Immerhin die ZEIT und nicht die Bild Zeitung. Sie war boshaft. Er sah wirklich nicht ungebildet aus. Akademiker vermutlich. Lehrer? Nein, dazu war er zu gut angezogen. Und was sollte ein Lehrer an diesem Vormittag im Zug, es waren keine Ferien. Vermutlich irgendeine Art Manager. Obwohl, er sah ein bisschen verträumt aus.

Hatte er sich absichtlich ihr gegenüber gesetzt? Gerade hatte sie wieder seinen Blick erhascht. Ob er wohl ein Gespräch anfangen würde? Er war eher der schüchterne Typ. Und zu nahe rücken durfte man ihm sicher auch nicht, er würde dann bestimmt die Flucht ergreifen. Ach, die Männer im reiferen Alter. Entweder sie waren anmacherisch, eitel und völlig von sich überzeugt oder sie waren im Laufe der Jahre von der weiblichen Emotionalität so abgeschreckt, dass sie als Folge davon weitgehend in sich zurückgezogen lebten.

Wo waren nur die charmanten Draufgänger, die verführerischen und unwiderstehlichen Liebhaber, die furchtlosen Helden, die einen durch alle Gefahren brachten. Vermutlich waren das Märchengestalten. Zumindest als Dauereinrichtung. In der meist kurzen Zeit des Verliebtseins, versuchte ja manch einer immerhin ansatzweise die Sterne vom Himmel zu holen. Oder die Schmetterlinge im Bauch flattern zu lassen. Aber eben nicht dauerhaft.

Bob Dylan hatte dieser Frauenfantasie schon vor Jahren eine grobe Abfuhr erteilt „…it ain’t me babe! It ain’t me you’re looking for babe!“ Das hatte sie damals halb betrunken mit Paul am Strand gegrölt, kurz vor ihrer ersten gemeinsamen Nacht. 12 Jahre später hatte sie es, ebenfalls angetrunken, wieder gehört: nachdem er ihr eröffnet hatte, dass er eine andere liebte und gegangen war.

Doris Lessing hatte in ihren früheren Jahren unglaublich gut die Vielfältigkeit weiblicher Abhängigkeiten in all ihren Widersprüchlichkeiten beschrieben. Das „Goldene Notizbuch“ hatte sie verschlungen. Und jetzt hatte sie wieder ein Buch von ihr vor der Nase, musste aber heimlich ihr Gegenüber mustern. Wie er wohl reagieren würde, wenn sie einfach das Buch fallen liesse? Würde er es aufheben? Oder würde er ihr einen erstaunt mitleidigen Blick zuwerfen, so nach dem Motto: „Du solltest mal wieder in den Spiegel schauen, dann würdest du sehen, dass du nicht mehr 17 bist!“

Was sie immer wieder verwunderte, war die Schwierigkeit, im normalen Alltag mit Menschen in Kontakt zu treten, wohingegen das Internet voll mit chat rooms war, in denen alle Welt fröhlich und ungezwungen miteinander flirtete. Wo sich wildfremde Leute per email Hals über Kopf ineinander verliebten. Ein paar banale Worte genügten und in einer anderen Ecke des virtuellen Raums schlug ein Herz Purzelbäume, sassen Menschen vor dem Bildschirm und warteten mit rasendem Puls auf die nächste Message. Die Sehnsucht nach Geliebtwerden, nach Verbundenheit, nach flatterndem Herzen, das war es wohl, was alle antrieb.

Und hier sassen sie sich nun schon fast eine Stunde gegenüber und brachten nicht die einfachste Kommunikation zustande. Na ja, ganz stimmte es nicht. Ihre Augen waren sich schon begegnet. Und er hatte schöne Augen. Sehr aufmerksame, sehr ruhige und gerade. Er war keiner dieser verdrucksten Typen. Und auch keiner von diesen Möchte-gern-Machos, sonst hätte er schon längst ein Gespräch angefangen. Wenn sich ihre Blicke das nächstemal trafen, würde sie ihm ein ermutigendes Lächeln zuwerfen!

„Sehr geehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Salzburg Hauptbahnhof. Salzburg Hauptbahnhof!“

Beide erhoben sich gleichzeitig von ihren Sitzen und wären fast zusammengestossen. Er machte einen Schritt zur Seite und ihr damit Platz. Als sie den Mantel vom Haken genommen hatte, half er ihr beim Reinschlüpfen. Sie sagte „Vielen Dank.“ Er zeigte auf den Koffer in der Gepäckablage. „Ich nehme an, das ist Ihrer?“ und holte ihn auch schon runter. Er öffnete die Abteiltür, bedeutete ihr den Vortritt und als sie ihren Koffer nehmen wollte, sagte er: „Nein, nein, lassen Sie nur, ich mache das schon!“ Sie drehte den Kopf und lächelte dankbar.

Der Zug fuhr langsam durch das Gewirr der Gleise und Weichen. „Wohnen Sie in Salzburg?“ „Nein“ sagte sie, „ich bin nur ein paar Tage beruflich hier. Und Sie?“ „Auch nur beruflich.“ Dann hielt der Zug, er öffnete die Wagontür, liess sie zuerst aussteigen und kam mit den Koffern nach. Sie standen auf dem Bahnsteig und blickten sich an. „Also…“ begann sie, aber er unterbrach sie. „Ich weiss, dass man soetwas eigentlich nicht tut…aber, haben Sie heute Abend schon etwas vor?“ Sie zögerte ein wenig und blickte ihn fragend an. „Ich habe zwei Karten für ‚Figaros Hochzeit‘ im Festspielhaus, hätten Sie Lust mitzukommen?“ Mitten in den Abfahrtspfiff zur Weiterfahrt nach Linz, strahlte sie ihn an: „Sehr gerne. Ich liebe Opern!“ Sein Herz schlug Purzelbäume, in ihrem Bauch flogen Schmetterlinge. Oder vielleicht war es auch umgekehrt.

2 Gedanken zu „Erotic Story: Die ungeheuere Schwere der Realität“

  1. Endlich mal eine Story aus dem realen Leben! Da kann noch viel draus werden! Aus der Fortsetzung der Geschichte und der Fortsetzung der Geschichte der beiden Protagonisten. Gefällt mir!

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