Ungewissheit

Diese aufrüttelnde Geschichte ist im Kurs “Erotisch schreiben” entstanden. Ich danke der Autorin Beatrice für die Erlaubnis, sie hier zu veröffentlichen.
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„Hatten Sie in den letzten 6 Monaten ungeschützten Verkehr außerhalb Europas?“ Mein Stift bleibt bei dieser Frage in der Luft hängen. Ich zögere. Scheiße, deswegen sitze ich ja hier.

Vor vier Monaten war ich mit Mann und Tochter in Ägypten. Da hat es mich erwischt: „Ungeschützter Verkehr“. Oh Gott, und das gleich zweimal!
Ein paar Abende vorher noch hatte ich es geschafft, den gut aussehenden Dunkelhäutigen abzuweisen: Ohne Kondom sei nichts drin. Da beteuerte er, er würde die nächsten Tage immer „hunderte Kondome“ bei sich tragen – nur für mich!

Dann kam der Abend, wo sich wiederholt eine Gelegenheit ergab. Zu viele
Barcardi-Colas; Prickeln in der Kehle, im Bauch und dann unvermeidbar heftig zwischen den Beinen!
Als wir endlich am Strand alleine waren und schon „voll in Aktion“, kam sein Bedauern. Ausgerechnet heute Abend hätte er die Kondome vergessen.
Da war ich schon zu heiß, um abzubrechen. Hab‘ mitgemacht, mich gehenlassen.
Ja, es war schön. Zweimal haben wir es getrieben.

Aber dann, als ich neben meinem schlafenden Mann im Bett lag, kehrte der Verstand zurück – und mit ihm blanke Angst, die Angst vor AIDS. Ich wollte gegen die Wand rennen, die Zeit zurückdrehen, alles ungeschehen machen. Ich konnte es nicht fassen. Warum hatte ich mich nicht unter Kontrolle gehabt?

Gerade in Afrika und ausgerechnet mit einem Animateur, der jeden Sommer etliche Sexualkontakte hat – und das mir!
Ich, die ich so gar nicht auf One-Night-Stands stehe.
Die letzten Tage dort waren die Hölle. Ich wollte allein sein, nur allein sein, von niemanden berührt werden. Aber da gibt es noch Mara, meine Tochter – nichts anmerken lassen, fröhlich sein, lachen. Und in mir nur Angst, richtig große beschissene Angst.

Zu Hause durchforstete ich das Internet über AIDS im Allgemeinen und in Afrika im Besonderen. Nicht besonders aufheiternd, was ich da so gelernt habe. Und alles andere als beruhigend. Ich fühlte mich grauenvoll. Sogar meine Spucke, mit der ich den aufgeschürften Arm meiner Mara getröstet habe, könnte jetzt Unheil bringend sein!

Ich habe Roulette gespielt und die Kugel ist in meinem Hirn eingeschlagen. Wird sie mich umbringen?

Die Verantwortung für mich wäre ich ja noch zu tragen bereit. Aber mein Mann … Auch wenn keine Lust und kaum noch mehr als gelegentliche Zuneigung und Gewohnheit vorhanden waren – DAS wollte ich ihm nun doch nicht antun.
Und erst recht nicht meiner süßen Tochter, die ich mehr als alles andere liebe.

Die Angst hatte sich festgesetzt. Angst in meinem Kopf, Angst in meinem Herzen, Angst in meinem ganzen verdammten Körper.

Nach dem Urlaub fand der allwöchentliche Sonntagmorgenbeischlaf wieder wie gewöhnlich statt. Ich konnte nicht anders! Und mit jedem einzelnen Mal wurde die Bedrängnis – und die Gefahr der Ansteckung! – größer.
Dann malte ich mir tausendmal die Schreckensvision aus, meinem Mann von einem positiven AIDS-Ergebnis berichten zu müssen!
Denn DAS würde ich ihm sagen, ganz klar. Soviel Menschenverstand war dann doch noch vorhanden. Mein Leben würde sich ändern.

Na gut, das ist eigentlich sowieso schon überfällig, sonst wäre mir das in Ägypten gar nicht passiert.

Ich wurde immer nervöser und war gleichzeitig wie gelähmt. Hielt feige meinen Mund.
Nach außen hin musste ich die Normalität weiterlaufen lassen, innen quälten mich ständig diese fruchtbaren Gedanken. Geschieht Dir Recht, schimpfte ich mit mir – und das war noch das Harmloseste, was mir im Versinken in meine höllischen Zwiegespräche einfiel.
Nachweisbar wäre nach dieser kurzen Zeit ja sowieso noch nichts … Und zu unserem alten Dorfdoktor gehen? Wo mir schon im Wartezimmer mit Sicherheit drei unserer Nachbarn begegnen würden? Oh, nein – nur über meine Leiche! Ach, was für ein saublöder Ausdruck …
Nur immer schön die Fassade aufrechterhalten!

Nachdem so nun über drei Monate vergangen waren, vertraute ich mich einer Freundin an. Ich konnte nicht mehr.

Sie nahm mich mit in die nächstgelegene Stadt und nun sitzen wir hier, beide das erste Mal zum Blutspenden und füllen ellenlange Fragebögen aus.

Das ist nicht fair, schreit es in meinem Kopf, Du kannst doch da nicht einfach mit „nein“ antworten.
Aber dann fangen sie doch gar nicht erst mit der Blutauswertung an, zischt mein innerer Teufel zurück.

Immer noch stocke ich bei dieser Frage:
„Hatten Sie in den letzten 6 Monaten ungeschützten Verkehr außerhalb Europas?“

Meine Freundin blickt auf und schaut auf meinen Fragebogen. Sie liest, wo ich hänge und schüttelt leicht den Kopf.
Mechanisch mache ich bei „nein“ ein Kreuz.

Das Spenden selbst bringen wir problemlos hinter uns.
Zum ersten Mal fühle ich mich gelöster. Ich habe etwas GETAN!

Aber die Angst kommt wieder. Wieder und wieder, etliche düstere Prophezeiungen bilden kilometerlange Prozessionen in meinem Kopf.
Angst vor allen Dingen, da auch noch Unschuldige mit reingezogen zu haben!
Ich schwöre mir, das nie wieder zu tun! Nie wieder würde ich mich auf „ungeschützten Verkehr“ mit einem Unbekannten einlassen.
Und wenn er noch so sexy ist!

Aber vielleicht ist das jetzt sowieso schon alles zu spät.

Angst, Angst, Angst! Scheiße!
Und dieses Nichtstunkönnen, nur Warten.

4 Wochen später.

Von meiner Freundin habe ich seit einer Weile nichts mehr gehört.
Ich rufe sie an, frage beiläufig, ob sie schon Post wegen des Blutspendeausweises bekommen hat.

Da gesteht sie mir, dass ihrer bereits vor einer ganzen Woche gekommen ist …

Ein Gedanke zu „Ungewissheit“

  1. Falls ein wahrer Kern dahintersteckt:
    Bei jedem Gesundheitsamt ist es möglich, anonym einen Aidstest zu machen. Man ruft dort an, macht einen Termin aus, geht dort hin, gibt eine beliebige Kennung an, gibt Blut ab und kommt 4 Wochen später wieder, um das Ergebnis zu der Kennung zu erfahren. Funktioniert wunderbar, anonym, kann man in jedem Gesundheitsamt (muss also nicht das in der eigenen Stadt sein) machen…

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