Die kirgisische Kindfrau

Erik war nur widerwillig in den Weihnachtszirkus gegangen. Er tat es, weil seine Frau die Kinder aus dem Weg haben wollte und er ihr diesen Wunsch am Weihnachtstag nicht hatte abschlagen wollen. Sie waren neben ihm her durch den Schnee auf den Gehwegen getrottet und erst, als die Kapelle im Zirkuszelt den Eröffnungsmarsch gespielt hatte, waren sie aufgetaut.

Es war seltsam, wie sehr man die Weihnachtszeit mit großen Kinderaugen und kalten Apfelbäckchen in Verbindung brachte, und wie leicht man sich enttäuschen ließ, wenn man stattdessen mürrische kleine Wesen um sich hatte, die alles schon kannten und nichts zu erwarten schienen. Zirkus also – eine Veranstaltung aus einer versunkenen Welt, dachte er, und wunderte sich insgeheim, dass es so etwas überhaupt noch gab. Unförmige lebende Tiere, alberne Clowns, den Geruch nach Sägespänen und Pferden, nach Schweiß und Talkum, den scheppernden Klang verstimmter Trompeten, und die aufreißerische Stimme des Conferenciers ... Erik versuchte, sich selbst in Stimmung zu bringen und sich auf die akrobatischen Akte, die folgen würden, zu freuen. Wie er vermutet hatte, langweilten ihn die Tiernummern, da waren die Trapezkünstler schon etwas anderes. Er ertappte sich dabei, wie er den Kopf in den Nacken legte, um mit seinen Augen den hin und herwippenden Schaukeln zu folgen, auf denen eine südamerikanische Truppe in geflickten Trikots ihre Übungen vollführte.

Nun kündigte der Mann mit dem Zylinder eine Schlangenfrau an, die angeblich aus Asien stammte. Eine zierliche schlanke Person in einem weißen Trikot erkletterte das Podest und begann, sich kunstvoll zusammenzufalten. Sie hatte tatsächlich kirgisische Augenschlitze, Brauen wie Nerzfellchen, und einen kleinen strengen Mund, der sich, während sie sich ganz auf ihre Aufgabe konzentrierte, zu schmalen Strichen zusammenzog. Sie beugte den Oberkörper ganz nach hinten und umfasste ihren zierlichen Knöchel mit beiden Händen. Während ihr Kopf nach hinten hing, ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er eben jetzt – ganz in ihre angespannte Konzentration hinein – aufstehen und diese kleinen angestrengten Lippen der Schlangenfrau küssen könnte. Er würde es weich tun, ganz sanft, um sie nicht zu erschrecken, ganz so wie ein Pferd das Stückchen Zucker, das eine Handfläche ihm darbietet, aufnimmt, tastend und behutsam.

Natürlich blieb Erik sitzen, musterte nur kurz seine Kinder, deutete auf die Schlagenfrau, lächelte, flüsterte „unglaublich!“ und sah wieder zu ihr hin. Sie hatte sich nun wieder in eine aufrechte Position gebracht, hielt ihr kleines, weißgeschminktes Gesichtchen mit seinem entrückten Ausdruck in das Dunkel des Zirkuszeltes. Er hätte seinen Zeigefinger in den Mund stecken und ihr mit der Fingerspitze über die Augenbrauen fahren mögen – so wunderbar erschien ihm dieses Antlitz in diesem Augenblick. Die Wangenknochen standen stark hervor und auf ihrer Stirn glitzerten kleine Glanzaprtikelchen – sie sah ganz und gar exotisch aus, eher Kind als Frau, eher Engel als Mensch, eher Äther als Erde. Sie drehte sich nun um und beugte sich auf die gleiche Weise wieder zu ihren Fersen herab, diesmal in der entgegengesetzten Richtung. Erik sah nun ihr Gesicht nicht mehr, sondern ihren flachen Bauch, in dem die Rippen deutlich hervortraten, sah die flachen Hügelchen, die ihre Brüste sein mussten, sah durch die gespreizten Beine hindurch geradewegs auf ihr Geschlecht. Es musste winzig sein, denn das Stückchen weißen Trikots, das da zwischen ihren Beinen hindurchlief und zwischen ihren straffen Hinterbacken verschwand, bedeckte nur ein paar Quadratzentimeter Haut. Sie streckte nun den Kopf zwischen ihren Fersen hindurch und sah ihn an. Erik meinte, ein Flehen in ihren Augen zu sehen, eine stumme Bitte um Erlösung, und er mußte sich an den Lehnen seines Stuhles festhalten, um nicht aufzustehen und zu ihr hinzugehen. Sie bot sich ihm dar, Kopf und Geschlecht zugleich, zwei Münder, die eine ungeheure Süße versprachen, Zartheit und Straffheit in einem. Er schluckte trocken. Louise würde jetzt die Christbaumkugeln in die Zweige hängen und ein Liedchen summen und nicht ahnen, dass ihr Mann hier, im Zirkus, von einer Frau träumte, die ebenso unerreichbar wie nah war. Er hätte seine Kleider ablegen mögen, dieses Stückchen Stoff beiseite rücken mögen, und seinen warmen Penis in dieses Mädchen schieben mögen, noch während sie in dieser absurden, erregenden Stellung verharrte. Sie schlang jetzt erneut die Beine umeinander, dass ihm schwindlig wurde. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er sich zu diesem Körper fügen könnte, so dass sie schließlich eins würden, Beine und Hände, Penis und Schoß, Lippenpaar und Lippenpaar. Sie wollte es, das spürte er, sie lockte ihn und foppte ihn, ihm wurde unerträglich heiß. Noch während er, nun ganz und gar verwirrt, die verschiedenen Körperteile, die er sah, zu sortieren versuchte, hatte sie schon wieder anderes im Sinn. Nun wurde sie kleiner und kleiner, alles schien sich ineinander zu verknoten, er sah keinen Kopf mehr, keine Arme, keine Beine, sondern nur noch Gliedmaßen, die weder das eine noch das andere oder beides zugleich zu sein schienen. Sie war nun ganz und gar in sich geschlüpft, verschwunden, eine Auster, die eben noch weit geöffnet, nun ganz und gar verschlossen war.

Erik atmete aus. Der magische Augenblick war vorüber. Er war ihr nicht gewachsen gewesen, er hatte den Zeitpunkt verpasst, es war seine Schuld, dass sie nun für immer verzaubert, ja, verdammt bleiben musste. Unter Trompetengeklirr faltete sie sich auf, verbeugte sich knapp, sandte einen arroganten, schneeweißen Blick in seine Richtung und verschwand.

Erik sah auf seine Kinder, blass, er hatte plötzlich das Gefühl, ein Überlebender zu sein. Kirgisiens Wunder hatten ihn berührt, jedoch nicht verführt. Er würde seiner Louise die Kinder zurückbringen, man würde Weihnachten feiern und niemand würde je erfahren, welcher Lebensgefahr er im Zirkus entronnen war.

Nessa Altura - November 2004 - www.nessaaltura.de