Barbara und die Männer

Sie steht in dem langgestreckten Bad vor dem großen Spiegel, ganz dicht davor, denn sie ist kurzsichtig. Mit einem Wattepad, den sie mit Reinigungsflüssigkeit getränkt hat, reibt sie ihr Gesicht ab. Ihre Gedanken wandern zurück zu dieser blöden Auseinandersetzung mit Boris am Abend. Sie könnte sich schwarz ärgern, warum hatte sie ihm nur von ihrem Traum erzählt. Gleich nach dem Streit rief sie ihre Freundin Urte an und die meinte trocken. "Du weißt doch, Männer halten es nicht aus, wenn sie mehr als zwei Vorgänger hatten. Und deine Phantasien erzählst du ihnen besser nicht. Dafür gibt's doch gute Freundinnen."

Barbara trägt eine Tagescreme auf und mustert kritisch die Partie um ihre Augen. Es macht ihr heute verdammt viel aus, dass sie dort ungefähr 200 feine Fältchen sieht. Sie ist 45 und oft hält sie sich für richtig attraktiv und genießt die Blicke auf ihren Beinen. Heute steht sie dicht vor der Panik. "Scheiße", denkt sie, wenn ich das Geld hätte, würde ich doch zum Schönheitschirurgen gehen." Wie Inge, die einen Teil ihrer fälligen Lebensversicherung ins Fett-Absaugen investierte. Inge war viel dicker gewesen als Barbara in ihren üppigsten Zeiten, Boris hatte sie trotzdem immer attraktiv gefunden. Barbara würde jetzt am liebsten auf die Straße rennen und die Leute fragen: Bin ich attraktiv? Sie könnte ja mit Boris anfangen, aber dessen Antwort kannte sie nun schon. Er hatte sie auch begehrt und geliebt als sie 12 Kilo mehr wog.

E

r behauptete, sie hätte keine Falten. Einerseits fand sie das wunderbar und andererseits hasste sie ihn manchmal wegen der - wie ihr schien - plumpen Schmeichelei.

Dann sah sie sich brüllen: "Ich bin 45, habe Falten um die Augen, Tränensäcke, einen Schwimmring um den Bauch und färbe mir die Haare. Sülz nicht rum! Ich werde alt! Schau den Tatsachen ins Auge, nicht deiner Phantasie."

Und dann würde sie in Tränen ausbrechen und er würde sie in den Arm nehmen und streicheln und dann nimmt Barbara ein kleines braunes Fläschchen und trägt mit einem Wattepad Tagesschutz auf. Ihre helle Haut wird um eine kaum wahrnehmbare Nuance dunkler und gleichmäßiger. Sie seufzt laut. Sie liebt Kosmetik und gibt viel Geld dafür aus. Langsam weicht die Panik. Sie sieht sich in die dunklen Augen und findet sich schön. Es sind die Augen ihres Vaters. "Der erste Mann in meinem Leben", sagt sie oft. Sie ist die einzige Frau in ihrer Familie, die sich schminkt. Ihr Papa findet sie auf alle Fälle schön.

Barbara wählt einen auberginefarbenen Lidstrich und färbt mit einer Spirale die Wimpern dunkelbraun. In dem Traum, den sie Boris erzählt hatte, weil sie sich gut fühlte, vertraut und offen mit ihm, hatte sie Sex mit zwei Männern gehabt und einer davon war ein ehemaliger Liebhaber gewesen. Das Gefühl im Traum war wundervoll, als sie erwachte, sirrte alles in ihr vor Erregung. Sie versuchte es zu beschreiben, die neuen Möglichkeiten, die sie darin ahnte und nicht in Worte fassen konnte. Etwas Kostbares wollte sie mit Boris teilen. Wie das Besteigen eines Fahrzeugs war es ihr erschienen, das sie in eine andere Welt bringen könnte. Sie hatte sich einfach so schwer getan, ihr Gefühl zu vermitteln. Boris saß nur stumm da, mahlte mit den Kiefern und sie wußte, gleich würde irgend etwas Schreckliches passieren.

Barbara nimmt aus einer langen Reihe von Lippenstiften einen braunroten und sucht nach dem passenden Konturenstift. Jetzt fühlt sie sich fast vollständig. Sie zieht die Konturen ihrer Lippen nach, füllt die Kontur mit dem Lippenstift, spitzt die Lippen, wirft sich einen Kuss zu. Sie denkt nicht mehr an Boris. Gestern hatte sie einem neuen Kollegen ihre Visitenkarte gegeben und angedeutet, sie würde gerne mal mit ihm plaudern. Das Leben war zu kurz, um es mit schlecht gelaunten Männern zu verbringen. Sie malt mit dem Lippenstift ein Herz auf den Spiegel.

Eduardo - November 2004